Der Branchendienst Galopp Intern hat in seiner aktuellen Ausgabe einen Text zur aktuellen Finanzierungskrise des deutschen Turfs abgedruckt, der schon am Tag des Erscheinens für reichlich Gesprächsstoff sorgte. GaloppOnline.de hat sich entschlossen, den Text (natürlich mit Genehmigung des Autors) an dieser Stelle zu veröffentlichen.
Es ist ziemlich exakt ein Jahr her, da haben wir an dieser Stelle nach einem Horst Köhler des deutschen Turfs gerufen. Nach jemandem, der die Fäden der Zukunft dieses Sports spinnt, der verschiedene Interessengruppen zu koordinieren vermag, der dem Sport ein Gesicht gibt, der Verantwortung übernimmt, dem man vertraut, der die älteste organisiert betriebene Sportart der Welt hierzulande wieder in ruhige Fahrwasser bringt. Und der Mut und Aufbruchstimmung verbreitet. Es ist ein Jahr her. Was hat sich getan?
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Betbull wurde eingeführt, die BGG hat vom DVR den German Tote übernommen, Gerd Zimmermann ist zurückgetreten, Michael Mäder wurde entdeckt und wieder entfernt, der Union-Klub ist pleite. Die Ära Klaus Zellmann, die so vieles verändert hat, endet nach der soundsovielten Krise abrupt, der Raffelberg heißt jetzt pferdewetten.de-Rennbahn. In Köln schlagen die Ratsparteien allen Ernstes eine Sanierung des Renn-Vereins durch Bebauung der Parkplätze vor. Mit dem früheren Erfolgstrainer Andreas Schütz verlässt eine Reizfigur die Szene. Die in Deutschland gezogenen Hengste Hurricane Run und Shirocco, der noch kurz zuvor nicht Renntaugliche, werden über 2400 Meter zu den beiden bedeutendsten Grasbahngaloppern der Welt. Dortmund-Wambel sieht Winterrennen zum Abgewöhnen. Das DVR ist großteils entmachtet, verrichtet vornehmlich noch die Alltagsarbeit. Die BGG gründet die vielbeschworene SGG. Als Ursache der allgemeinen Krise soll auf einmal die bislang unverdächtige interne Struktur der Organisationen ausgemacht worden sein. Eine Kommission ist dabei, eine entscheidungsreife Alternative zu entwickeln, mit neuen Finanzierungswegen bis hin zum Börsengang. Ausgerechnet das biedere Neuss überrascht mit gewaltigen Ausbauüberlegungen. Deutschlands Obergerichte fällen in Sachen Rennsport und Wetten Entscheidungen, die niemanden groß weiter bringen. In der großen Politik wird ein Spieleinsatzsteuergesetz erfunden und dann wieder gestoppt. Größter Trost der Besitzer und der ganzen Szene sind neben den Auslandssiegen die Auslandsverkäufe.
Manche von diesen Ereignissen hatten oder haben erhebliche Bedeutung, und zwar teils positive, teils nachteilige. Einen wirklichen psychologischen Ruck löste aber keines von ihnen aus. Vom Derbyredner bis zum Stallmädchen sehnt sich alles nach der ordnenden Hand, nach richtungweisenden Signalen der Führung, ohne aber noch wirklich an deren Erscheinen zu glauben.
Es stehen die Fragen im Raum: Hat dieser Sport, der bisher alle Krisen, Revolutionszeiten und sogar mehrere große Kriege überstanden hat, im dritten Jahrtausend und nach 60 Jahren Frieden denn wirklich keine Zukunft mehr? Ist die Abschiedszeremonie längst eingeläutet, und niemand merkt es? Das Ende eines Traums.
Denken wir positiv: Womit ist der Niedergang noch zu stoppen? Sitzen nicht alle im selben Boot, oder zumindest auf demselben Fluss? Besitzer, Trainer, Jockeys, Stallpersonal, Hufschmiede, Transporteure, Futtermittel-Lieferanten, Rennvereine, Rennbahnpersonal und nicht zu vergessen die Wetter? Ist es wirklich nicht möglich, Interessen unter einen Hut zu bringen und dem Mikrokosmos Galopp wieder Leben einzuhauchen?
Die Beantwortung der Fragen beginnt leider mit einer weiteren Frage: Wie konnte es so weit kommen? Oder anders formuliert: Wo liegen die Ursachen dafür, dass das Wehklagen innerhalb des Sports kaum mehr aufhören will, Resignation herrscht, sich mehr und mehr Lethargie breit macht? Und teils sogar nur noch blanke Ironie.
Wie viele Jahre wurde nun diskutiert, wie viele Arbeitskreise, Kommissionen wurden gegründet, wie viel Flickwerk vollbracht, wie viele Notmaßnahmen durchgeführt, auf dem Weg zu einer Gesundung des Patienten? Es erinnert irgendwie alles an lebensverlängernde Apparatemedizin. Hätte der Rennsport die Chance zu einer Patientenverfügung, hätte er vielleicht schon längst gesagt „Nun lasst mich doch endlich gehen, ich kann nicht mehr.“
Ein allumfassendes Bild kann man an dieser Stelle unmöglich zeichnen. Aber man kann in Ausschnitten einen Lichtkegel auf die Realität werfen, die wir heute vorfinden. Es lohnt sich.
Als in diesem Frühjahr Renntermine ausfielen, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, das käme manchem Veranstalter gelegen. Wenn dann veranstaltet wird, ist man schon mit Wettumsätzen zufrieden, die man früher als indiskutabel abgetan hätte. „Über die Wetten ist der Sport nicht mehr zu finanzieren“, sagt ein Vorstandsmitglied eines West-Vereins. Das mag sein, möchte man ihm entgegnen, innerhalb der vorliegenden Rahmenbedingungen geht es wohl in der Tat nicht mehr. Aber geht es denn überhaupt anders? Über Drittveranstaltungen auf den Hippodromen, über Sponsoring, über den Verkauf von Tribünenplätzen, über Eintrittsgelder? Gar über das in sich zusammengekrachte Luftschloss der Partizipation am Sportwetten-Boom?
Von einem anderen Rennverein hört man in etwa folgendes: „Wir sind die einzigen, die noch einigermaßen leben. Aber wir gehen nicht über den Punkt hinaus.“ Das ist Besorgnis erregend. Müssen nach Gelsenkirchen erst noch weitere Bahnen verschwinden? „Wir sind die einzigen, die noch einigermaßen leben. Aber wir gehen nicht über den Punkt hinaus.“ Hört dieses Alarmzeichen niemand?
Warum sagt eigentlich keiner das, was Fakt ist: Entweder der Sport schafft es, seine Finanzierungsgrundlage über das Wettgeschäft zurück zu gewinnen oder er ist mausetot.
Anders als über Wetten ist eine dauerhafte und solide Finanzierung in der Breite, gestreut über alle Rennvereine, nicht möglich. Grundstücke, die man verkaufen kann, sind irgendwann nicht mehr da. Mäzene, die in ihre Privatschatulle greifen, sind Gold wert, aber es darf kein Dauerzustand werden. Sponsoring in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist kein Selbstläufer. Sportwetten können andere viel besser anbieten, wenn es denn zu einer Liberalisierung kommen sollte. Warum soll der Rennsport, der es nicht einmal geschafft hat, eine eigene Internet-Wettannahme aufzubauen, der beharrlich Angebote an den Bedürfnissen der Wetter vorbei offeriert, warum (und wie) sollte dieser Sport über Nacht zu einem vom Wetter präferierten Anbieter von Sportwetten werden?
„Über Wetten ist der Sport nicht mehr zu finanzieren.“ Wirklich nicht? Hat es denn eigentlich jemals einen Versuch gegeben, das wieder zu schaffen? Hat jemals ein Gremium des Sports sich eingeschlossen und frei von Denk-Barrikaden und Einzelinteressen ein Wetten-Konzept für die Zukunft entworfen?
- Fakt ist, dass es nach wie vor keine 50 Cent-Wette am Toto gibt.
- Fakt ist, dass unsere Anfrage bei German Tote, wie man denn, bitte sehr, dort ein Wettkonto eröffnen kann, seit Wochen unbeantwortet ist.
- Fakt ist, dass das im Prinzip großartige Instrument German Tote (mit den Verbindungen nach England und Frankreich) bis dato überhaupt nur unzureichend genutzt wird.
- Fakt ist, dass zahlreiche Wettanbieter in die Lage versetzt werden, Konkurrenzangebote zur Totowette anzubieten: steuervermeidende Auslandsvermittlung, Einzahlungsboni, Quotenboni sind nach wie vor an der Tagesordnung, der gesetzlich mit gutem Grund verankerte Wettbewerbsvorteil der Totowette ist ad absurdum geführt, längst hat die Totowette einen eklatanten Wettbewerbsnachteil! Weder Rennvereine noch Behörden reagieren darauf.
- Fakt ist, dass im Rennprogramm des Mülheimer Rennvereins großflächig für Internet-Wettanbieter geworben wird, die Rennbahn selbst sogar den Namen eines Anbieters trägt. Die andere Annonce offeriert großzügig Bonuszahlungen in den einzelnen Wettarten. Unterschwelliger Tenor: Wer außerhalb des Sports wettet, bekommt mehr.
- Fakt ist, dass ein Vorstand eines Internet-Anbieters auf zahlreichen Bahnen moderiert, in Düsseldorf sogar an einem Stehpult, auf dem groß der Name dieses Anbieters zu lesen ist für alle, die Pferderennen irgendwo live sehen. Ein genialer Marketing-Schachzug für das Unternehmen. Aber für den Sport?
- Fakt ist weiterhin, dass der Rennsport und seine Aktiven etwas produzieren, ohne dass Gegenleistungen zahlreicher (nicht aller) Nutznießer kommen. Urheberrechte werden nicht eingefordert, Einnahmen aus Bilderlizenzverkäufen dienen vor allem dazu, die Produktion dieser Bilder selbst zu ermöglichen, ohne dass am Ende des Tages noch mehr zur Finanzierung des Sports als solches übrig bleibt.
- Fakt ist, dass Rennvereine teils auf eigenen Rennbahnen nicht Herr im Haus waren und sind und erst durch aufmerksame Wetter darauf hingewiesen werden mussten, dass Bahnbuchmacher verbotswidrig 50-Cent-Wetten auf die Veranstaltung vor Ort angeboten haben.
- Fakt ist, dass Unternehmen wie JAXX, die die Bereitschaft bekundet haben, alle Wetten in den Toto zu vermitteln, nicht enger an den Sport gebunden wurden.
- Fakt ist, dass es heute niemanden gibt, der im DVR-Vorstand als Führungsgremium wirklich dafür verantwortlich ist, dass der Gesamt-Wettumsatz maximiert wird. Der Sport lebt zwar davon, aber während sonst für alle wichtigen Bereiche Kommissionen vorhanden sind, gibt es für Wetten keine.
- Fakt ist, dass es darüber hinaus keinen „Produkt- und Verkaufsmanager Wetten“ gibt.
- Fakt ist, dass es überhaupt kein besseres Instrument als den Toto gibt, um die Nachfrage nach Wetten zu kanalisieren und seriöse Quoten zu bilden.
- Fakt ist, dass die Rennbahnen mit Billigung der Behörden seit vielen Jahren kurzsichtige Eingriffe zu Lasten der Wetter in den Totalisator vornehmen: Selbst zur Finanzierung eines Spielplatzes wurden in einem Fall die Totoabzüge erhöht. Man baut darauf, dass der dumme Wetter die per Salamitaktik reduzierte Attraktivität der Wette nicht bemerkt (und stärkt damit gleichzeitig den Wettbewerber Buchmacher). Das Verflixte ist, dass viele Wetter vom Wetten aber erheblich mehr verstehen als manche hohen Herren in den Rennvereinsvorständen und auch auf Grund dieses Griffs der Rennvereine in den Auszahlungstopf immer mehr die Lust am Wetten verloren haben.
Die Liste ließe sich fortsetzen.
Die Abwärtsspirale geht unterdessen immer weiter. Die Zahl der Pferde in Training nähert sich einer bedrohlichen Größenordnung. Rennveranstaltungen häufen sich an bestimmten Tagen (wie jüngst am Ostermontag mit seinen Minifeldern), anstatt dass eine Entzerrung forciert wird. Rennpreise sind ein Lachschlager. Dass nicht schon mehr Besitzer das Weite gesucht haben, grenzt fast an ein Wunder. Die Ausschreibungen der Rennen sind mitunter derart unkoordiniert, dass für Pferde in Form mit startwilligen Besitzern keine andere Option bleibt, als nach Frankreich zu gehen.
Noch einmal ganz langsam zum Mitschreiben: Besitzer von Pferden in mittleren Handicapregionen werden aufgrund der mangelnden Startoptionen gezwungen, sich im Ausland nach Rennen umzusehen. Karriereplanungen von Rennpferden sind kaum mehr möglich. Ein ausgefallener Renntag hier, ein ausgefallenes Einzelrennen dort, schon sind drei oder vier Wochen ins Land gezogen, in denen das Pferd bezahlt werden muss, aber keine Chance zum Geldverdienen hat. Ein weiteres Beispiel: wer am Osterwochenende ein Dreijährigen-Rennen gewonnen hat, kann im Ausschreibungsbuch lange blättern, bis er ein adäquates Rennen für dreijährige Sieger gefunden hat.
Dies sind alles Folgen der porösen löchrigen Basisfinanzierung aus dem Wettgeschäft. Sportliche Vielfalt und Ausgewogenheit spielen keine Rolle mehr. Lieber doch noch ein magerer Ausgleich mehr, der bringt immerhin noch am meisten Umsatz und kostet nicht viel.
Ist bis dato ein ernstzunehmender Versuch unternommen worden, an der prekären Situation etwas zu ändern? Wir kennen die Antwort nicht. Aber wir beobachten, dass es zumindest kein positives Ergebnis gibt.
Hat der deutsche Galopprennsport eigentlich einmal versucht, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen von der schlagkräftigsten internationalen Galopper-Organisation, der International Federation of Horseracing Authorities (IFHA), des weltweiten Zusammenschlusses der Galopper-Dachverbände? Maurits Bruggink ist deren Generalsekretär. Bereits im letzten Jahr hat Bruggink Galopp Intern ein bemerkenswertes Interview gegeben („Piraten räubern und Gesetze werden nicht gelebt“, GI Nr. 16 / 2005, S. 265 ff.). Bruggink hat, das liegt in seiner Funktion begründet, den wohl besten Überblick über die Strukturen des weltweiten Renngeschehens, ist ausgestattet mit reichlich Insiderwissen und Know how über die politisch-strukturellen Probleme, die der Galopprennsport in vielen Ländern hat. Da ist es nur folgerichtig, dass wir Maurits Bruggink nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in Sachen Sportwetten erneut zu seiner Sicht der Dinge befragt haben, fokussiert auf die Auswirkungen des Urteils auf den Rennsport in Deutschland. Bruggink hat uns folgende Stellungnahme zukommen lassen.
„Das Urteil selbst und die Statements der Länder einige Tage nach dem Urteil bieten leider keine Lösungsansätze für das Problem des Remote-Gamblings, des Wettens über Internet. Was auch immer der deutsche Gesetzgeber oder deutsche Gerichte sagen: Deutschland ist und bleibt der drittgrößte Markt für Betfair. Die im Raum stehende Frage ist: Ist es legal für deutsche Bürger, ausländische Wettseiten zu nutzen und wenn das nicht der Fall ist, was sind die konkreten Maßnahmen, die Nutzung zu unterbinden? Pferderennsport in Deutschland, im Moment sicherlich um die Zukunft kämpfend aber immer noch auf Weltklasse-Niveau befindlich, muss innerhalb der deutschen Gesetze betrieben werden. Dieses Gesetz sollte sicherstellen, dass jeder Wettanbieter, insbesondere die ausländischen, ebenfalls innerhalb dieser Gesetze arbeitet und arbeiten muss. Ergänzend dazu sollte das Gesetz sicherstellen, dass Wetten auf Pferderennen einen fairen Beitrag zum deutschen Rennsport leisten. Wir wissen, dass Totalisator-Wetten einen deutlich besseren Rückfluss in den Rennsport bieten als Buchmacherwetten. Aber dort, wo Buchmacherei erlaubt ist, sollte ein Gesetz die Beiträge der Buchmacher durchsetzen. Das Beispiel in Großbritannien zeigt, dass Vereinbarungen auf freiwilliger Basis sehr schwer zu realisieren sind. Ich würde die deutsche Politik sehr dringend bitten, die jetzige Gelegenheit zu ergreifen, das Gesetz in diesem Sinne zu ändern. Das würde dem Rennsport eine Chance geben und würde sogar für die Buchmacher von Vorteil sein.“
Es ist allerhöchste Zeit für eine vollständige Bestandsaufnahme der Situation unter Einbeziehung der möglichen Folgen der Verfassungsgerichtsentscheidung. Und es ist Zeit für konsequentes systematisches Arbeiten nach den Gesetzen der Logik. Nicht für Kosmetik, für Luftschlösser, für theoretische Strukturdiskussionen oder defätistische Sprüche, sondern für klare, vernünftige und allgemein akzeptierte Entscheidungen und Maßnahmen. Die vielleicht am Anfang auch unpopulär sind. Einen Erdrutsch auslösen können. Heulen und Zähneknirschen verursachen. Und die an der Stellschraube ansetzen, um die sich alles dreht: dem Wetten.
Wenn dieser Sport leben will, dann muss er sich zuallererst an die Naturgesetzlichkeiten halten. Wenn nichts passiert, ist das Ende absehbar. Das ist unumstößliche Wahrheit. Und gerne noch einmal:
Entweder der Sport schafft es, seine Finanzierungsgrundlage über das Wettgeschäft zurück zu gewinnen oder er ist mausetot.