
Vier Tage Resturlaub. Was macht man damit als Sport-Welt-Redakteur? Normalerweise sitze ich den immer beim Buchmacher meines Vertrauens ab, doch in diesem Jahr hatte ich mir etwas anderes überlegt. Als großer Fan des National Hunt-Sports ist ein Besuch beim Grand National in Aintree doch eigentlich Pflicht. Und da ich Cheltenham bereits ausgelassen hatte, machte ich mich, gemeinsam mit einem Freund, auf den Weg in Richtung Liverpool, um das Grand National-Meeting live zu erleben. Ganz entspannt ging es einen Tag zuvor per Flieger nach Manchester, dort ein Auto geliehen, und erst einmal nach Liverpool gefahren. Zeit für Sightseeing war ausreichend da. Beatles-Ausstellung und eine Bootsfahrt auf der Mersey zählten natürlich zum Pflichtprogramm, danach begann aber bereits die Diskussion, ob man nicht doch zum nächsten Bookie gehen sollte, um die Rennen aus Wetherby und Lingfield zu verfolgen. Wie diese ausging, ist klar. Dann machten wir uns auf den Weg Richtung Hotel, das in Wigan (zwischen Manchester und Liverpool) lag. Oder besser gesagt liegen sollte, denn bei der Buchungsbestätigung war aus der „Prescott Road“ eine „Prescott Street“ geworden, was - verbunden mit dem Nichtmieten eines Navigationssystems („die 14 Pfund pro Tag investieren wir lieber in den „Placepot““) zu einer gigantischen Odyssee führte. Nach einem Anruf kamen wir aber doch noch auf Kurs, das Hotel lag aber rund 20 Kilometer von dem Ort entfernt, wo wir es erwartet hatten. Egal, wir waren angekommen, und bis nach Aintree war es nicht weit. In Aintree angekommen (direkt gegenüber dem Eingang befindet sich eine Bahnstation) inspizierte ich natürlich erst einmal die Bahn. Und was mir sofort auffiel: sie hat doch deutlich mehr Charme als Cheltenham, wo es in erster Linie um Funktionalität geht. Außerdem ist alles auch viel großräumiger als dort, so dass man viel mehr Bewegungsfreiheit hat als beim Cheltenham-Festival. Wesentlich umfangreicher auch das kulinarische Angebot. Während man in Cheltenham quasi zum Verzehr von relativ unappetitlichen Burgern gezwungen ist, kann man in Aintree Köstlichkeiten aus aller Welt zu sich nehmen. Asiatisch, italienisch, und und und…. Die Auswahl ist wirklich immens. Absolutes Highlight waren die Erdbeeren mit Sahne a la Wimbledon (3 Pfund), die ich mir an keinem der drei Meetingstage entgehen ließ. Auch das sportliche Niveau von Aintree muss sich hinter dem des Cheltenham-Festivals nicht verstecken, auch wenn der ein oder andere Crack, wie Long Run, nicht dabei war. Vier Gruppe I-Rennen alleine am ersten Tag, das kann sich wirklich sehen lassen. Was beiden Bahnen aber gemeinsam ist: ohne Tribünen-Platz (den ich gottseidank hatte) sieht man nur recht wenig von den Rennen, auch wenn hier eine Großbildleinwand das Problem etwas mildert. Bereits lange vor dem ersten Rennen marschierten neun Pferde durch den Führring. Es handelte sich hierbei um „Retrained Racehorses“, also ehemalige Rennpferde, die nach ihrer Rennkarriere eine neue Laufbahn in einer anderen Disziplin begonnen haben. Der Grand National-Sieger von 2008, Comply Or Die, war ebenso dabei, wie der Schimmel Monet’s Garden, der als Rennpferd knapp 700.000 Pfund verdienen konnte. Sie alle haben durch die Stiftung „Retraining of Racehorses“ (ROR) die Möglichkeit bekommen, eine Aufgabe nach ihrem Karriereende zu finden. Dressur, Show Jumping, Horseball, oder als Jagdpferd, Möglichkeiten für andere Aktivitäten gibt es viele. Wetttechnisch hätte es für mich ein phänomenaler Tag werden können. Wäre im vierten Rennen, der Fox Hunters‘ Chase auf dem Grand National Kurs, die Nr. 24, Warne (es liefen 25), Dritter statt Vierter geworden, hätte ich den „Placepot“ (hier muss man in den ersten sechs Rennen des Tages jeweils ein platziertes Pferd haben) mit 60 Pence getroffen. Die Quote betrug 38.903:10, ich hätte also über 2.300 Pfund bekommen. Allerdings muss ich zugeben, dass die Quote mit meinem Pferd auf dem dritten Platz etwas niedriger gewesen wäre. Na gut, es hat mal wieder nicht sollen sein. Beim Verlassen der Bahn stand dann noch ein kurzer Abstecher zum Grab der Grand National-Legende Red Rum an (dreifacher Sieger und zweimal Zweiter), das in Höhe des Zielpfostens liegt. Das zählt zum absoluten Pflichtprogramm eines Aintree-Besuchs. Mit einem Besuch in einem ziemlich versifften Pub und Live-Fussball klang der erste Aintree-Tag aus, der schon einmal richtig Appetit auf mehr gemacht hatte. Ladies Day – warum nicht bei uns? Dem zweiten Meetingstag sah ich mit großer Spannung und Vorfreude entgegen, was zwei Gründe hatte. Zum einen, weil ich den Ausnahme-Steepler Sprinter Sacre bei seinem ersten Versuch jenseits von zwei Meilen live sehen konnte, und zum anderen weil es der „Ladies Day“ war. Der vierbeinige Superstar löste seine Aufgabe in der Melling Chase im Stil eines Jahrhundertpferdes, denn gegen bärenstarke Konkurrenz brauchte Jockey Barry Geraghty auf dem Network-Sohn nicht einen Finger krumm zu machen. Das war schon echtes Gänsehaut-Feeling, das man als anwesender Rennsport-Freak dabei bekam. Apropos Gänsehaut; diese hatten auch die Tausende von Ladies, die sich auf der Bahn einfanden. Doch der Grund dafür war ein anderer. Bei Temperaturen um sieben Grad und einem eisigen Wind waren sie zumeist nur mit einem besseren Stofffetzen und High Heels bekleidet. Klappernde Zähne, permanentes Umknicken beim Gehen und die erwähnte Gänsehaut, alles das konnte den Ladies den Spaß nicht nehmen, vorausgesetzt, sie hatten etwas Hochprozentiges im Glas, um die Kälte, bzw. die Schmerzen zu betäuben. Denn es gab an diesem Tag nur ein Ziel: Paaarty!!! Ein gigantisches Zelt, in dem es neben Buchmachern und Getränkeständen auch eine große Bühne mit Live-Musik gab, wurde so stark frequentiert, dass die Ordner nach einer gewissen Zeit niemanden mehr hinein ließen. Es wurde getanzt wie in einer Disco und der Geräuschpegel war gigantisch. Ja, man konnte so einiges über die englische Gesellschaft lernen an diesem Tag. Nicht nur, dass englische Frauen offenbar hochgradig masochistisch veranlagt sind, und ihnen nichts, aber auch gar nichts peinlich ist, sondern auch, dass der Beruf des Plastischen Chirurgen in Großbritannien aktuell richtig Konjunktur zu haben scheint. „Warum gibt es so einen Renntag in Deutschland nicht?“, fragte ich mich, um mir dann selbst die etwas ernüchternde Antwort zu geben, dass das aus kulturellen Gründen bei uns wohl nicht funktionieren würde. Gegen Ende des Renntages gab es dann hier und da noch durchaus lustige Streitszenen zu sehen, wie man sie sonst nur aus dem Reality TV kennt: denn so manche Dame war, in nicht mehr ganz nüchternem Zustand, aus irgendeinem Grund nicht mehr so gut auf ihren Partner zu sprechen. Oder auch umgekehrt. Ziemlich am Ende, und mit geschwollenen Füßen, wankten die Damen nach dem letzten Rennen von der Bahn. Doch auf dem Weg zu den Parkplätzen oder der Bahnstation winkte die Erlösung. Denn clevere Geschäftsleute verkauften hier in Hülle und Fülle „Flip Flops“, die reißenden Absatz fanden. Und so nahm der Renntag für alle Beteiligten noch ein gutes Ende. Auch für mich, denn einige Favoritensiege hatten dafür gesorgt, dass mein Portemonnaie noch ausreichend gefüllt war, um am Abend noch eine warme Mahlzeit zu mir zu nehmen. „Die spinnen, die Briten“, heißt es schon in einem Asterix-Comic. Und es ist ja auch wirklich irgendwie abgedreht, dass ausgerechnet das schwerste Rennen, das es gibt (sowohl aus wett-technischer Sicht, als auch für Pferd und Reiter), das mit dem größten Umsatz der gesamten Saison ist. Aber zum „National“, wie das berühmt-berüchtigte Rennen auf der Insel nur genannt wird, hat wirklich jeder eine Meinung. Egal ob im Cafe, oder beim Metzger, überall bekommt man von irgendwem - ob man will oder nicht - noch einen Tipp für das Spektakel. Noch voller als am Tag zuvor konnte ich mir die Bahn eigentlich kaum vorstellen, doch für den Tag des Grand Nationals hieß es bereits eine Woche zuvor schlichtweg „Sold out“. Und es war tatsächlich noch einmal einen Tick voller. Wenn man sich nicht rechtzeitig auf den Weg Richtung Geläuf machte, hatte man es schwer, überhaupt noch einen Platz zu bekommen, auf dem man auch nur annähernd etwas sehen konnte. Die noch lebenden Grand National-Sieger paradierten vor dem Eröffnungs-Rennen, einem sogenannten „Charity Race“ von ehemaligen Jockey-Größen, vor den Tribünen. Im erwähnten Charity Race tat Ex-Hamdan Al Maktoum-Jockey Richard Hills genau das, womit er mich schon früher immer auf die Palme gebracht hatte; er wurde mit dem Favoriten Zweiter. Im Anschluss schmetterte Opernsängerin Katherine Jenkins „God Save The Queen“, begleitet von vielen textsicheren Zuschauern. Dann ging der eigentliche Renntag los, und die Spannung wurde für mich immer größer. Die ersten Rennen vergingen wie im Fluge, dann war es soweit: Grand National-Time. Ein imponierendes Bild, wie die 40 Jockeys aus dem Waagegebäude die Treppe in den Führring herunter gingen. Neun von ihnen hatten bereits einmal das Grand National gewonnen, für sechs war es der erste Ritt in dem Wahnsinns-Rennen überhaupt. Mit meiner Presse-Akkreditierung hatte ich einen traumhaften Platz auf der Tribüne, gleich über den Besitzern der Grand National-Starter. Die Parade vor den Tribünen wurde stark verkürzt, da man die Pferde dabei nicht zu lange dem starken Sonnenlicht aussetzen wollte. Nun stand das National also an, zum 166. Mal. Die knapp 7,2 Kilometer und 30 Sprünge. Wie viele der 40 Starter mögen wohl diesmal das Ziel erreichen? Man hatte in den vergangenen beiden Jahren über eine Million Pfund investiert, um die Hindernisse sicherer zu machen. Und auch wenn an den ersten beiden Meetings-Tagen zwei Pferde ihr Leben ließen (eines nach Herzversagen, eines nach einem Sturz), so hatte sich das in den Rennen zuvor auch bemerkbar gemacht. Ohne Fehlstart gingen die 40 Pferde auf die Reise. Und nach den ersten fünf Sprüngen waren alle noch im Rennen. Dann ging es auf „Beecher‘s Brook“ zu, das wohl berüchtigtste Hindernis der Welt. Und auch hier gab es keinen Zwischenfall. Ohrenbetäubender Jubel aus 70.000 Kehlen, als der Rennkommentator sagte, dass alle sicher über den Sprung kamen. Nach und nach entwickelte sich das Rennen dann aber natürlich doch - wie immer - zu einem Ausscheidungsrennen, aber letztlich kamen alle Pferde und Jockeys, 17 von ihnen erreichten das Ziel, unversehrt aus dem Rennen. Als es in Richtung des Ziels ging, und sich drei Pferde vorne abgesetzt hatten, hatte ich noch Chancen, den Sieger zu treffen, denn ich hatte Teaforthree gewettet, der zum erweiterten Favoritenkreis zählte. Am letzten Sprung verlor er aber etwas Schwung und früh konnte ich erkennen, dass es nicht gehen würde, er wurde letztlich Dritter. Vorne löste sich der 670:10-Außenseiter (auf der Bahn gab es sogar 1331:10!) Auroras Encore aus dem kleinen Stall von Sue Smith mit Ryan Mania, einem der sechs Jockey-Novizen in diesem Rennen. „Immerhin ein kleines Quartier, und nicht ein Henderson, Nicholls oder Mullins, die sonst immer alles abräumen“, freute ich mich dann doch wenigstens noch ein wenig über den Außenseiter-Sieg. Mit relativ leerem Portemonnaie, aber fantastischen Eindrücken eines großen Rennsport-Ereignisses, machte ich mich rund eine Stunde, bzw. nach zwei weiteren Rennen, auf den Heimweg. Mit der Gewissheit, dass das nicht mein letztes „National“ war.